Anstieg zur Hochwilde

Hochwilde-Überschreitung: Bis über alle Berge und zurück

Gipfelbucheintrag Nr. 12: Hohe Wilde, Nord- und Südgipfel. Es ist Ende August und perfektes, sonniges Bergwetter. Startpunkt: Langtalereckhütte; Endpunkt: Pfelders/Südtirol. Ausgezeichnete Sicht, kaum Menschen unterwegs. Die Tour ist lang und anstrengend. Doch nach 20km, über 1.000hm aufwärts und fast 2.000hm abwärts überwiegen die Glücksgefühle.

Einen Dreitausender besteige ich nicht gerade alle Tage – zwei Dreitausender auf einen Streich klingt umso verlockender. Es liegt der Duft von Abenteuer in der Luft. Wie könnte es auch anders sein bei diesem Namen: Hohe Wilde, auch Hochwilde. Im Italienischen trägt dieser fantastische Berg den klingenden Namen Cima Altissima, was in etwa so viel bedeutet wie „sehr hoher Gipfel“. Die Höhepunkte begleiten uns bei dieser Tour, so sind die 2 Gipfel nicht nur sehr hoch, der Marsch ist auch sehr lang, die Tour startet sehr früh und am wichtigsten: die Tour ist vor allem eins – sehr schön. Doch von vorne.

 

Blick auf Pfelders und das Passeiertal kurz nach der Landesgrenze

 

Das Tor zur Gletscherwelt

Wir starten bei der Langtalereckhütte. Die Hütte ist nicht nur Ausgangspunkt für viele Touren, sondern auch lohnendes Tourenziel. Von Obergurgl aus erreicht man die Hütte zu Fuß in ca. 2 Stunden. Die Strecke eignet sich aber auch perfekt für einen Ausflug mit dem Mountain- oder E-Bike. Die Natur ist hier oben bereits verschwenderisch schön. Die Umgebung rund um die Langtalereckhütte wurde von Gletschern geprägt. Noch heute sind die abgerundeten, rötlichen Steine Zeugen der einstigen Urgewalt. Kaum vorzustellen, wie alles, wo wir heute stehen, noch vor wenigen Jahrzehnten von einer meterdicken Eisschicht überzogen war. Die Gletscherlandschaft wird uns noch länger bei dieser Tour begleiten. Jetzt heißt es, Wanderschuhe schnüren und auf ins Abenteuer.

Wir lassen die Langtalereckhütte hinter uns und steuern in Richtung Schwärzenkamm. Dabei kommen schnell einige hundert Höhenmeter zusammen. Neben dem Fußweg startet auch der Klettersteig Schwärzenkamm. Dieser landschaftlich unglaublich attraktive Klettersteig ist von Juni bis September begehbar und weist Schwierigkeiten bis zum Grad C auf. Wir sparen uns das Klettererlebnis für einen anderen Tag auf –schließlich haben wir noch viel vor uns.

 

Der Weg nach Süden führt über das ewige Eis

Einige steile Kehren später gehen wir auf das unbewirtschaftete Hochwildehaus zu. Hier oben fühlt es sich wie in einer anderen Welt an. Das Hochplateau, das seinen Namen mehr als verdient, lässt weit blicken. Zahlreiche 3.000er der Ötztaler Alpen bilden das Panorama, der Gurgler Ferner liegt wie ein starrer Fluss in den Hochtälern dazwischen. Wohin ich blicke: ich sehe Berge – und eine Schönheit der Natur, wie ich sie bisher nicht gekannt habe. Wir stehen auf über 2.800m, aber die Berge um uns herum ragen noch weit über uns hinaus. Ich frage mich, wie solch eine raue und karge Gegend dennoch so sanft und einladend erscheinen kann. Ich finde keine Antwort, sondern genieße einfach die Ruhe und die Ausblicke, die für ein ganzes Leben reichen würden. 

Blick Richtung Süden auf Hochwilde (li.) und Annakogl (mi.)

Nach den Tagträumen und einer kleinen Stärkung startet der technisch anspruchsvolle Teil der Wanderung. Wir überqueren den Gletscher, um Richtung Nordgipfel der Hochwilde zu gelangen. Entsprechende Gletscherausrüstung ist unbedingt erforderlich. Ebenso sollte diese Tour nur mit einem erfahrenen Guide, der sich sowohl mit den landschaftlichen Gegebenheiten als auch mit der Seiltechnik auskennt, begangen werden. Nachdem wir eine Seilschaft gebildet haben geht es los. Das Schneefeld, das den Gletscher bedeckt, scheint endlos zu sein. Aus zaghaften Gehversuchen werden schließlich selbstbewusste Schritte. Die Höhenmeter fühlen sich hier viel leichter an – es gibt so viel zu entdecken. Kleine Gletscherbäche bahnen sich ihren Weg durch das ewige Eis. Ich habe selten etwas so Faszinierendes gesehen. Auch die Farbe des eisblauen Wassers wird mir wohl nie wieder aus dem Kopf gehen. Wir lassen den Annakogl links liegen und nähern uns dem Gipfelanstieg auf die Hochwilde. 

Steigeisen ausziehen, Seil zusammenpacken und Anstieg. Die Erschöpfung klopft langsam an, aber genährt mit Adrenalin und der Vorfreude auf den Gipfelsieg geht es fast leichtfüßig Richtung Nordgipfel. Berg heil – wir haben es geschafft! Was für eine Aussicht. Der Gipfel ist recht schmal und wir beschließen, direkt Gipfel Nr. 2 für heute anzugehen. Ich blicke nach Süden am Grat entlang und hoffe dieser Gratwanderung gewachsen zu sein.

Gut gesichert geht es über Wasser und Eis

 

Nord- und Südgipfel sind über einen schmalen Grat verbunden

Denn es ist wirklich ein schmaler Grat auf dem wir uns bewegen. Zum Glück ist der Kamm mit Seilen versichert, sodass wir uns mit dem Klettersteigset gut fortbewegen können. Schwindelfreiheit ist hier oben nicht nur ein guter Berater, sondern Pflicht. Der Weg vom Nord- zum Südgipfel ist kurzweilig. Trotz einiger Überwindung ist es eine unheimlich schöne Strecke. Und so belohne ich mich am Südgipfel nicht nur mit dem zweiten Gipfelsieg des Tages, sondern auch mit dem Gefühl, über mich selbst hinausgewachsen zu sein.
 

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Eine kleine Jause und ein paar Gipfelfotos später treten wir den Rückweg an. Da der Südgipfel der Hochwilde die Grenze zwischen Nord- und Südtirol und somit Österreich und Italien markiert, befinden wir uns bereits auf italienischem Grund und Boden. Wir steigen zur Stettiner Hütte ab. Wir sind schon lange unterwegs und genießen die Einkehr in vollen Zügen. Von der Hütte aus hat man einen atemberaubenden Blick auf die Berge der Texelgruppe. Gut gestärkt sind wir bereit für die letzte Etappe unserer Tour. 

Das Schöne an Rundwanderungen ist, dass es auch beim Abstieg hinter jeder Kehre etwas Neues zu entdecken gibt. Wir haben Pfelders im Bick und gehen über befestigte und unbefestigte Wege, über Stock und Stein, an Wasser vorbei und geradeaus, aber vor allem gehen wir von Kehre zu Kehre. Es sind viele Kehren. So langsam macht sich bemerkbar, dass wir deutlich mehr Höhenmeter hinunter als hinauf gehen müssen. Nach fast 8 Stunden Gehzeit schmerzen die Gelenke und die Bergschuhe scheuern. Mit mehr Willenskraft als Beweglichkeit nähern wir uns unserem Ziel – Pfelders. Wenn wir uns jemals einen Nachmittagssnack in der Sonne verdient hatten, dann definitiv heute. 

Ein Gipfelfoto darf natürlich nicht fehlen

 

 

Viele Wege führen vom Ötztal nach Südtirol

Der Rest der Familie hat sich für die gemütliche Variante entschieden und ist mit dem Auto von Obergurgl über das Timmelsjoch nach Pfelders gekommen. In über 30 Kehren schlängelt sich die Straße von Österreich über den 2.491m hohen Pass nach Italien. Zahlreiche Stationen laden zum Entdecken und Erkunden ein und machen die Überfahrt zu einem echten Erlebnis. 

Wir werden schon erwartet. Die anderen haben uns glücklicherweise schon ein schönes Plätzchen auf der sonnigen Terrasse freigehalten. Rucksack absetzen, Bergschuhe ausziehen, in den Stuhl fallen lassen und genießen. Ein kühles Getränk in der einen, eine Gabel voll mit selbstgemachtem Südtiroler Apfelstrudel in der anderen Hand. Noch nie hat ein Apfelstrudel so unglaublich gut geschmeckt. 

Kaum zu glauben, was an einem Tag alles möglich ist. Wir haben zwei Gipfel über 3.000m bestiegen, sind über einen Gletscher gegangen, haben zu Fuß über die Alpen eine Landesgrenze überquert, haben traumhafte Landschaften gesehen, haben den leckersten Apfelstrudel überhaupt gegessen und lassen nun den Tag gemütlich ausklingen. Morgen geht es mit dem Auto über das Timmelsjoch wieder zurück. Aber in Gedanken packe ich schon wieder meinen Rucksack, ziehe die Bergschuhe nochmal etwas fester zu und wandere einfach wieder los.

Südtiroler Apfelstrudel mit Vanilleeis

Fotocredits: Johannes Brunner, www.johannesbrunner.at